Könnte die Entstehung des Universums ganz anders verlaufen sein, als bisher angenommen? Dr. Richard Lieu, Professor der Physik an der University of Alabama in Huntsville (UAH), hat ein neues Modell vorgelegt, das genau das nahelegt – und dabei gleich zwei der zentralen Säulen der modernen Kosmologie infrage stellt: Dunkle Materie und Dunkle Energie.
Entstehung des Universums ohne Urknall
Anstelle eines einzigen Urknalls und einer gleichmäßigen Ausdehnung schlägt Lieu im Rahmen seiner Mitte März veröffentlichten Arbeit vor, dass sich das Universum in einer Abfolge plötzlicher, zeitlich begrenzter Ereignisse entwickelt hat. Diese sogenannten „temporalen Singularitäten“ sollen zu bestimmten Zeitpunkten das gesamte Universum durchdringen – als extrem kurze, aber intensive Schübe von Energie und Materie. Sie treten gleichzeitig überall auf und verschwinden so rasch, dass sie sich nicht direkt beobachten lassen. Gerade diese Flüchtigkeit könnte erklären, warum sich Dunkle Materie und Dunkle Energie bislang jeder Messung entziehen.
Lieu argumentiert, dass diese kaum erfassbaren Impulse viele der Phänomene nachbilden könnten, die derzeit durch Dunkle Komponenten erklärt werden: etwa die Entstehung des Universums, seine beschleunigte Expansion oder die scheinbar zusätzliche Gravitation in Galaxien. Wo bislang hypothetische Teilchen vermutet wurden, könnte es sich in Wahrheit um die Nachwirkungen solcher Singularitäten handeln.
Diese Theorie knüpft an Lieus frühere Überlegungen an, in denen er sogenannte „masselose topologische Defekte“ beschrieben hat – räumlich begrenzte Strukturen, die gravitative Wirkung entfalten, ohne selbst Masse zu besitzen. Nun überträgt er dieses Prinzip auf die Zeit: Nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Singularitäten könnten das Universum formen.
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Realistische Alternativ-Theorie
Was zunächst ungewöhnlich klingt, erweist sich als formal sauber: Lieus Modell ist vollständig in die Allgemeine Relativitätstheorie eingebettet. Es wahrt den Energieerhaltungssatz, kommt ohne exotische Annahmen wie negative Masse aus und erfüllt auch die bekannten Energiebedingungen, die die physikalische Konsistenz der Theorie sichern.
Offen bleibt allerdings, was diese Singularitäten verursacht. Lieu beschreibt sie als mathematische Lösungen der Gleichungen, ohne jedoch eine zugrunde liegende physikalische Entstehung zu benennen. Dieses Fehlen einer tieferliegenden Erklärung ist eine Schwäche – aber eine, die er mit dem Standardmodell der Kosmologie teilt. Denn auch der Urknall selbst ist letztlich eine Singularität ohne bekannte Ursache.
In Lieus Modell verliert der Urknall seine Einzigartigkeit. Er wäre nicht der einmalige Ursprung von Raum und Zeit, sondern das erste von mehreren solcher Ereignisse – ein besonders starker Impuls in einer Reihe kosmischer Energieschübe, die zur Entstehung des Universums geführt haben.
Auch die Phase der Inflation, die in der herkömmlichen Kosmologie für eine extrem schnelle Ausdehnung kurz nach dem Urknall verantwortlich gemacht wird, könnte in dieser neuen Sichtweise auf eine Folge solcher Singularitäten zurückgehen – ohne die Notwendigkeit eines hypothetischen Inflaton-Feldes.
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Neue Perspektive eröffnet
Besonders bemerkenswert ist, dass Lieus Ansatz prinzipiell überprüfbar ist. Er schlägt vor, Himmelsbeobachtungen nach Rotverschiebung fein zu unterteilen – mit ausreichend hoher Auflösung könnten sich dabei kleine, bislang unbemerkte Sprünge in der Expansionsgeschichte zeigen. Diese „Sprünge“ im Hubble-Diagramm würden auf vergangene Singularitäten hinweisen, erklärte der Physiker in einer Pressemitteilung der UAH:
„Die beste Möglichkeit, nach dem vorgeschlagenen Effekt zu suchen, besteht darin, ein großes bodengestütztes Teleskop – wie das Keck-Observatorium [Waimea, Hawaii] oder die Isaac Newton Group of Telescopes in La Palma, Spanien – zu verwenden, um Beobachtungen im tiefen Feld durchzuführen, deren Daten nach der Rotverschiebung ‚geschnitten‘ würden.“
Dr. Richard Lieu
Natürlich ist das Modell noch nicht in der Lage, das Lambda-Kalte-Dunkle-Materie-Modell (ΛCDM-Modell) zu ersetzen, das viele kosmologische Beobachtungen mit hoher Genauigkeit beschreibt – darunter die kosmische Hintergrundstrahlung, die Verteilung von Galaxien und großräumige Strukturen im Weltalls. Damit Lieus Theorie – auch für die Entstehung des Universums – ernsthaft als Alternative in Betracht kommt, müsste sie diese Erklärungsleistung mindestens erreichen.
Ob diese Sichtweise Bestand haben wird, ist offen. Doch sie eröffnet eine faszinierende Perspektive: Die Möglichkeit, dass nicht unbekannte Materiearten oder Energien das Universum formen – sondern das, was zwischen den bekannten Momenten geschieht.
Quelle: „Are dark matter and dark energy omnipresent?“ (arXiv, 2025); „The binding of cosmological structures by massless topological defects“ (Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, 2024); University of Alabama in Huntsville
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