Halle, Christchurch und weitere Fälle haben den Rechtsextremismus in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Doch hat der jüngste Amoklauf in Deutschland die Aufmerksamkeit zudem auf einen anderen alten Feind gelenkt: die „Gamer-Szene„. Desinformation steht im Clinch mit Vorurteilen, Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens müssen es ausbaden – was aber steckt wirklich dahinter?
Amoklauf in Deutschland: Rechtsextremismus oder „Gamer-Szene“?
„Wir müssen die Gamer-Szene stärker in den Blick nehmen“, sagte Innenminister Horst Seehofer in Folge des antisemitischen Terroranschlags in Halle (Saale) und zog damit den Zorn ganzer Generationen auf sich. Die „Gamer-Szene“ scheint es nämlich Leid zu sein, als Sündenbock für grausamen Verbrechen hingestellt zu werden, die aus klaren, mit ihr nicht zusammenhängenden Motivationen verübt werden.
Als Seehofer seine Aussage korrigierte und konkritisierte, war es bereits zu spät. „Wir prüfen derzeit alle Facetten, wie Rechtsextremismus besser bekämpft werden kann“, erklärte er. „Wir sehen, dass Rechtsextremisten das Internet und auch Gaming-Plattformen als Bühne für ihre rechtswidrigen Inhalte missbrauchen. Ob analog oder digital: Wir wollen Rechtsextremisten überall dort bekämpfen, wo sie aktiv sind.“
Terror im Twitch-Stream, Extremismus im Discord
Die Welt der „Gamer-Szene“ ist von außen betrachtet nicht immer leicht durchschaubar. Worte wie „Top-Fragger“, „Lootbox“, „Twitch“ und „Discord“ mögen aufs Erste wie ein eine Fantasiesprache wirken, doch lassen sie sich durchaus schnell durchschauen. Twitch ist beispielsweise eine Streaming-Plattform, auf der der Attentäter seine Taten live Filmen und ins Netz stellen konnte. Ganz ähnlich hatte auch der Christchurch-Täter während seines Attentats gehandelt – jedoch auf Facebook.
Tatsächlich sorgte Innenminister Seehofer daher nicht nur durch seine Verknüpfung der „Gamer-Szene“ mit Rechtsextremismus im Allgemeinen für Kritik, sondern auch durch seine Pauschalisierung. Denn tatsächlich machen Gamer und Casual-Gamer mittlerweile nahezu die Hälfte der in Deutschland lebenden Menschen aus. Die „Gamer-Szene“ besteht dabei aus Hunderten, gar Tausenden Szenen, die sich aus unterschiedlichen demographischen Gruppen speisen. Das eigentliche Problem des Rechtsextremismus wird in der anschließenden Debatte übertönt.
Wie das Facebook muss sich auch die Gaming-Plattform Twitch auf Algorithmen und Moderatoren verlassen können, die die Regeln der Plattform durchsetzen. Das gilt ebenso für Discord. Das Programm für Instant Messaging, Chat, Sprachkonferenzen und Videokonferenzen geriet zuletzt durch die Aktivitäten des rechtsextremen Netzwerks Reconquista Germanica in Verruf, eine als harmlose Gamer getarnte Troll-Armee.
Nach dem Amoklauf: Deutschland spaltet sich abermals
„Teilweise sind es die Spiele selbst, teilweise sind es die Chatspalten, in denen Rechtsextremismus oder Cybergrooming stattfinden“, erklärte die Bundestagsabgeordnete Renate Künast gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) und zog damit einen ähnlichen Shitstorm auf sich, wie er bereits Herrn Seehofer ereilt hatte. Auch die Piratenpartei nimmt daran Anstoß und echauffiert sich gemeinsam mit Hunderten Nutzern auf Twitter.
Dabei haben die Gaming-Kritiker, wenngleich sie es selbst nicht so recht zu begreifen scheinen, in vielen Punkten recht. Denn nach wie vor organisieren sich extremistische und terroristische Gruppierungen mitunter über gängige Plattformen – dazu gehören auch Nachrichten oder Voice-Chats in Videospielen. Die Problematik: Tiefschwarzer, geschmackloser Humor und Extremismus lassen sich hier nur schwerlich voneinander unterscheiden. Ebensowenig lässt sich verfolgen, wann das eine in das andere überschlägt.
Wer sich schon einmal anhören durfte, was einem teils in den Lobbys beliebter Games entgegenschlägt, der wird nach kurzer Überlegung feststellen, dass die eine oder andere Maßnahme nicht schaden könnte. Doch stellt sich hier die Frage, wie man das bewerkstelligen will. Denn Facebook und Twitch haben bereits Maßnahmen ergriffen. Wie Discord haben auch die Spieleentwickler Mechanismen etabliert, mittels derer sie gegen Extremismus in der Gamer-Szene vorgehen wollen.
Analog vs. Digital: Rechtsextremismus in der Gamer-Szene
Tatsächlich stehen wir nach dem Amoklauf in Deutschland aber auch im generellen Angesicht des weltweiten Extremismus einer scheinbar wachsenden Problematik gegenüber. Denn was sich einst Analog in Form von Versammlungen und Hetzreden abspielte, kann sich nun in der Reizüberflutung digitaler Medien und dem nahezu anonymen Netz tarnen. Wie wir jedoch ebenfalls wissen, lassen sich nur selten einfache Lösungen für komplexe Probleme finden.
„Die Games-Community unter einen Generalverdacht zu stellen, zeugt vor allem von Unkenntnis und Hilflosigkeit und lenkt von den wirklichen gesellschaftlichen und politischen Ursachen für solche Taten ab“, erklärt beispielsweise Felix Falk, Geschäftsführer des Verband der deutschen Games-Branche. Uninformiertheit schlägt in Hilflosigkeit, schlägt in Vereinfachung um und ein Hobby, das gerade noch unschuldig war, macht dich plötzlich zum Extremisten.
Ein offener Dialog wiederum könnte zu neuen Lösungswegen führen. Unüberlegte Forderungen wie jene der Abgeordneten Künast und des Bundesministers des Inneren, für Bau und Heimat, Horst Seehofer, hingegen befeuern Orwell’sche Fantasien über das Mitlesen von WhatsApp-Nachrichten sowie Angst vor Zensur und Überwachung à la China. Anstelle von Grenzbeamten, die Spionage-Software auf den Handys von Touristen installieren, wäre es in diesem Fall jedoch die Gamer-Szene, also gut 43 Prozent der deutschen Bevölkerung, die wegen Extremismus und Amokläufen in Deutschland schikaniert würde.