China plant die totale Überwachung. In der „neuen Ära des Sozialismus chinesischer Prägung“, die Xi Jinping mit Abschluss des Parteikongresses am Dienstag in Peking einläutet, ist der Aufbau eines weltweit einmaligen digitalen Kontrollapparats geplant. Ein „gesellschaftliches Bonitätssystem“ soll jeden Chinesen erfassen und seine „Vertrauenswürdigkeit“ mit Plus- und Minuspunkten einstufen. Wie der „Große Bruder»“(Big Brother) in George Orwells Roman „1984“ greift „Onkel Xi“ (Xi Dada), wie der Staats- und Parteichef genannt wird, tief in Alltag und Privatsphäre seines Volkes ein.
„Wackelpudding an die Wand nageln“
„Es ist zweifellos das ehrgeizigste orwellsche Vorhaben der Menschheitsgeschichte“, sagt Sebastian Heilmann, Direktor des China-Instituts Merics in Berlin, der von „digitalem Leninismus“ spricht. Galt der Informationsfluss über das Internet lange als Bedrohung für autoritäre Systeme in der Welt, benutzt Chinas kommunistische Führung vielmehr Big Data und Künstliche Intelligenz (KI) wirksam als Werkzeug, um das Milliardenvolk zu kontrollieren.
Der frühere US-Präsident Bill Clinton sagte bei einem Besuch 2000 in Shanghai, das Internet kontrollieren zu wollen, sei „wie Wackelpudding an die Wand zu nageln“. Er lachte noch: „Viel Glück damit.“ Clinton lag falsch. Heute lachen Chinas Führer. Sie schaffen es nicht nur, Online-Inhalte zu zensieren und zu steuern, sondern nutzen das Internet auch als Herrschaftsinstrument.
Punktesystem für digitales Verhalten
„Das Ziel des Systems ist, eine gute soziale Ordnung und eine harmonische Entwicklung zu schaffen“, sagt Guo Tao, Unterstützer des Projekts und Vizedirektor des Zentrums für elektronischen Handel, in dem Experten von Universitäten und Instituten zusammenarbeiten. „Die Bonität einer Person lässt sich von einfachen Dingen ableiten“, schildert der Experte: Ob er seine Stromrechnung rechtzeitig bezahlt, gegen Verkehrsregeln verstößt, Gerichtsbeschlüsse befolgt, seine Kredite regelmäßig abbezahlt und Verträge einhält.
Ob sich jemand nur mit Spielen im Internet vergnügt oder das Parteiorgan „Volkszeitung“ liest – alles könnte künftig benotet werden, schildern Experten. Erst recht Kritik in sozialen Medien oder politische Aktivitäten. „Viele Dissidenten tun gefährliche Dinge, die der Entwicklung des Landes schaden“, sagt Guo Tao. Wer nicht in „Pornografie, Gewalt und politische Opposition“ verwickelt sei, habe nichts zu befürchten.
Unrechtmäßiges Verhalten erschwert gesellschaftliche Teilhabe
Das System „erhöht den Preis für unrechtmäßiges Verhalten“, schildert Guo Tao. „Wer einmal seinen Kredit verspielt hat, wird es schwer haben, in der Gesellschaft Fuß zu fassen.“ Schon heute wird befürchtet, dass es mit schlechten „sozialen Noten“ schwierig werden könnte, sein Kind auf eine gute Schule zu bringen, einen Studienplatz und Job zu bekommen oder einen Kredit aufnehmen zu können.
Aber wie wird „Vertrauenswürdigkeit“ überhaupt definiert? Ganz einfach, findet Guo Tao: „Alle Worte und Taten, die gut für Land und Volk ist, gelten als gutes politisches Verhalten.“ In sozialen Medien sollten sich Nutzer auf jeden Fall zurückhalten. „Ich würde dazu raten, dass einfache Leute es vermeiden, zu viel über Politik zu diskutieren.“ Und was ist, wenn eine falsche Information zu schlechten Noten führt? „Das System steckt noch in der Anfangsphase“, sagt Guo Tao. Das sei noch nicht geregelt. Vielleicht müsse der Betroffene dann eben nachweisen, dass die Information falsch sei.
Die Komplexität des Systems, das der Staatsrat bis 2020 aufbauen will, ist enorm. In der Endversion steuern sich die Menschen selbst – wie gefügige Untertanen, die fleißig arbeiten und konsumieren, sich selbst zensieren und „sozial funktionieren“, wie Kritiker warnen.
Chinesische Tech-Konzerne wichtiger Teil des Systems
Eine wichtige Rolle spielen die chinesischen Internetriesen wie Alibaba, Tencent und Baidu, die sich auch dank des abgeschotteten Internets in China gegen internationale Wettbewerber durchsetzen konnten. „Diese neue Form des Big-Data-gestützten Regierens nutzt die marktbeherrschende Stellung einiger weniger großer IT-Unternehmen, die ihre umfassenden Daten über Bürger, Unternehmen und wirtschaftliche wie gesellschaftliche Prozesse der Regierung zur Verfügung stellen müssen“, sagt Merics-Direktor Heilmann.
Das Leben der 730 Millionen Internetnutzer in China dreht sich heute schon um WeChat – eine Allzweckplattform im Handy zum Einkaufen, Chatten, Telefonieren, für Buchungen von Reisen und Restaurants, Taxiruf, Fahrradmiete oder bargeldlosen Bezahlen, das sich in China rapide entwickelt. Über die Registrierung mit echten Namen und Bankkonten schrumpft die Anonymität im Cyber-Raum auf ein Minimum. Wer eine Chat-Gruppe einrichtet, wird seit September schon dafür verantwortlich gemacht, dass alles politisch korrekt abläuft.
Keine öffentliche Diskussion
Obwohl das digitale Leben in China schneller läuft als anderswo, gibt es kaum Diskussionen über Datensicherheit oder Privatsphäre im Internet. Chinas Staatsmedien heben eher die Vorteile im Kampf gegen Kriminalität hervor. Tenor: Wer nichts Böses tut, hat auch nichts zu befürchten. Kritische Ansichten werden aus Online-Foren gestrichen. Doch Nutzer sind beunruhigt. „Ich mache mir schon Sorgen über die Sicherheit meiner persönlichen Daten“, sagt eine 28-jährige Mitarbeiterin in der Medienindustrie. „Es macht Angst, aber was sollen wir machen?“, sagt eine 32-jährige Angestellte.
Flächendeckende Gesichtserkennung in Arbeit
Der nächste Schritt ist Gesichtserkennung. Das Ministerium für Staatssicherheit entwickelt ein weltweit einmaliges, flächendeckendes System, das innerhalb von drei Sekunden jeden der 1,3 Milliarden Chinesen mit 90-prozentiger Sicherheit erkennen soll. Flughäfen, Universitäten und Restaurants setzen heute schon Gesichtserkennung beim Einchecken, Einlass oder zum Bezahlen ein. Mit 20 Millionen Kameras auf öffentlichen Plätzen hat China das weltweit größte Überwachungssystem. Dem wachsamen Auge der Obrigkeit soll nichts entgehen. «Norden, Süden, Westen und Osten – die Partei führt alles», formuliert Xi Jinping den Machtanspruch in der «neuen Ära».