Die Stoffwechselerkrankung Diabetes hat man ein Leben lang. Es gibt keine Heilung, nur Linderung. Besonders schwer haben es Typ-1-Patienten, von denen es weltweit geschätzt 43 Millionen gibt. Das eigene Immunsystem vernichtet die Insulin-produzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse, weshalb dem Körper ein Leben lang Insulin zugeführt werden muss.
Das ist nicht so simpel, wie es klingt, sondern ein permanenter Drahtseilakt: Ist der Glukosewert (Blutzuckerspiegel) zu niedrig, etwa weil zu viel Insulin zugeführt wurde, drohen Ohnmacht, Koma, Hirnschäden und Herzinfarkte. Ist der Wert langfristig zu hoch (zu wenig Insulin zugeführt) sind es Blindheit, Nierenversagen oder Fußamputationen.
Closed-Loop-System
In „schwierigen“ Fällen, die im Grunde der Großteil der Typ-1-Patienten sind, können Insulinpumpen genehmigt werden. Diese geben das Insulin schrittweise über einen programmierten Zeitraum ab. Wie viel Insulin abgegeben wird, muss der Patient einstellen, auf Basis seines aktuellen Glukosewerts. Vor dem Einnehmen einer Mahlzeit muss noch zusätzlich die Insulinabgabe eingestellt werden, auf Basis der Schätzung, wie viele Kohlenhydrate die Mahlzeit enthält.
Hier setzen Closed-Loop-Systeme an, die als der heilige Gral der Diabetes-Technologie gelten. Sie werden auch als „künstliche Bauchspeicheldrüse“ bezeichnet. Hier handelt es sich eigentlich nicht um eine neue Technologie, sondern die Verknüpfung zweier Technologien: Pumpe und Sensor (CGM) in einem. CGMs gibt es seit einigen Jahren. Sie messen konstant den Glukosewert und schicken diesen zum Smartphone. Das klassische Fingerstechen zum Blutzuckermessen muss nur noch ein bis zwei Mal pro Tag gemacht werden, um das CGM zu kalibrieren.
Beim Closed-Loop-System überträgt das CGM die Werte zur Pumpe, die die Insulinabgabe durch einen Algorithmus automatisch daran anpasst. Nur bei der Essensaufnahme muss die Insulinabgabe manuell nachjustiert werden, weil die Verzögerung zwischen Abgabe des Insulins und Aufnahme im Körper zu groß ist. Deshalb spricht man korrekterweise von „Hybrid-Closed-Loop-Systemen“, die aber üblicherweise nur als Closed-Loop bezeichnet werden. Ein „echtes“ Closed-Loop-System gibt es derzeit noch nicht, weil noch keine verlässliche technisch/medizinische Lösung für die Reduktion der Verzögerung gefunden wurde.
Genug gewartet
Aber auch bei normalen Hybrid-Closed-Loop-Systemen geht die Entwicklung nur langsam voran. Bisher hat lediglich Medtronic mit dem 670G seit Kurzem ein solches Gerät, obwohl viele Medizintechnik-Hersteller seit Jahren solche Systeme versprechen.
In den USA hatten ein paar Typ-1-Patienten die Nase voll davon, vertröstet zu werden und starteten 2013 die Bewegung #WeAreNotWaiting. Das Resultat daraus ist OpenAPS. Dabei handelt es sich um eine Community aus Hackern und Makern, die sich Closed-Loop-Systeme selbst bastelt.
Die Hardware, wie CGMs und Insulinpumpen, werden modifiziert. Die Schnittstelle dazwischen wird aus Mini-Computern, wie etwa dem Intel Edison, gebastelt. Algorithmus und Software werden selbst programmiert. Die Resultate sind beeindruckend: Funktionierende Hybrid-Closed-Loop-Systeme, schon Jahre bevor es so etwas von den ersten kommerziellen Anbietern gab. Bedient werden diese per Smartphone App. Wer will, kann die aktuellen Werte auf einer Smartwatch anzeigen lassen.
futurezone hat mit Dana Lewis, Gründerin von OpenAPS (Artificial Pancreas System = künstliches Bauspeicheldrüsensystem) gesprochen. Die 28-jährige US-Amerikanerin ist hauptberuflich Forscherin und lebt derzeit in Seattle.
futurezone: Wie hat OpenAPS dein Leben und deine Lebensqualität verbessert?
Dana Lewis: Für Menschen ohne Diabetes ist es schwer zu verstehen, welchen Tribut die Krankheit jeden Tag fordert. Stell dir vor, du hast ein neugeborenes Baby, das weint, gefüttert werden muss und alle zwei bis drei Stunden neue Windeln braucht. Diabetes ist genauso: Nur, dass es niemals aufhört. Man muss ständig auf eine wechselnde Situation reagieren und mit Essen und Insulin nachbessern. Mit OpenAPS wird diese Situation alle fünf Minuten abgefragt und die entsprechende Veränderung automatisch vorgenommen – damit man es nicht mehr selbst machen muss.
Durch OpenAPS muss ich nicht mehr jeden Tag hunderte Entscheidungen treffen und Handlungen tätigen, die mit Diabetes zu tun haben, sondern nur noch eine Handvoll. Anstatt mehrere Nächte pro Woche wegen zu hohem oder zu niedrigem Glukosewert aufzuwachen, passiert das jetzt vielleicht einmal in sechs Monaten. Die Gewissheit, die mir OpenAPS gibt, sicher schlafen zu können, ist unbezahlbar. Die Reduktion des täglichen, geistigen Ballasts ist unersetzlich.
Wie fortgeschritten ist die Software von OpenAPS? Kann sie mit einer kommerziellen Lösung wie dem Medtronic 670G mithalten?
Die Algorithmen, Features und Funktonen in Produkten wie dem 670G sind simpel und einfach, verglichen mit unserem Algorithmus. Das liegt daran, dass die Entwicklung vor Jahren gestoppt wurde, damit die langen, klinischen Tests für das Produkt beginnen konnten, um die Zulassung der US-Arzneimittelzulassungsbehörde FDA zu bekommen. Medtronic hat auch die Anpassbarkeit des 670G bewusst minimal gehalten, um die Komplexität der Tests, die für die Zulassung nötig sind, zu reduzieren. Damit ist OpenAPS in allen Bereichen weiter entwickelt als das 670G.
Wie sieht es mit OpenAPS im Vergleich zu Produkten aus, die derzeit entwickelt werden, also noch nicht in der klinischen Testphase sind?
Überraschenderweise wurde uns von Forschern im Bereich der Closed-Loop-Systeme gesagt, dass der Algorithmus von OpenAPS weiter fortgeschritten ist als alles andere, was derzeit verwendet oder von Laboren und Unternehmen gerade getestet wird. Das war vor einem Jahr. Seitdem haben wir noch bessere Algorithmen entwickelt, wie etwa oref1. Dieser erlaubt Usern mehr Flexibilität und bessere Ergebnisse und Glukosewerte rund um die Mahlzeiten.
An welchen Features arbeitet die OpenAPS-Community gerade?
Derzeit wird oref1 fertiggestellt, um ihn zu veröffentlichen, damit alle ihn nutzen können. Mit ein paar anderen Mitgliedern der Community arbeiten wir an einfacher zu verwendeten Interfaces für OpenAPS, etwa für Smartphone-Apps. Das Ziel ist besser zu visualisieren, was das System gerade macht, die Eingabe von Kohlenhydraten bei Mahlzeiten zu vereinfachen und die simplere Eingabe von temporären Zielen.
Was ist das langfristige Ziel, das OpenAPS erreichen will?
Wir haben zwei Primärziele: OpenAPS für mehr (und neuere) Insulinpumpen verfügbar zu machen und die kommerziellen Entwickler von Closed-Loop-Systemen zu ermutigen, mehr von dem in ihre Produkte einzubauen, was wir bei der Arbeit an OpenAPS gelernt haben. Um das erste Ziel zu erreichen, haben wir gerade ein Projekt laufen, um bestimmte Typen von Insulinpumpen quasi fernzusteuern. Das würde Closed-Loop-Systeme für eine große Gruppe von Typ-1-Patienten öffnen, die keine älteren Pumpen verwenden wollen (oder finden können), wie wir sie derzeit für unsere Do-it-Yourself-Closed-Loop-Systeme verwenden.
Gibt es Pläne OpenAPS auch in anderen Sprachen, abgesehen von Englisch, anzubieten?
Einige nicht-Englisch-sprechende Personen haben das bereits erfolgreich in die eigenen Hände genommen. Es gibt eine große deutschsprachige Community von Loopers (Anm.: User von Closed-Loop-Systemen), die ihre eigenen Chatrooms und Facebook-Seiten nutzen. In Europa gibt es noch viele Gruppen, die hauptsächlich AndroidAPS nutzen – dieser verwendet im Kern den OpenAPS Algorithmus. Die AndroidAPS-App selbst ist bereits in vielen Sprachen verfügbar. Es haben auch schon User Closed-Loop-Systeme gebaut, die nicht gut Englisch sprechen. Die Sprachbarriere ist also da, aber sie ist definitiv nicht das größte Hindernis beim Bau eines Closed-Loop-Systems.
Welche anderen Probleme gibt es?
Die Verfügbarkeit von Pumpen und CGMs, geschweige denn von vollständigen Hybrid-Closed-Loop-Systemen. OpenAPS ist derzeit hauptsächlich mit älteren Pumpen kompatibel, da wir die einfacher „hacken“ können. Diese bekommt man nicht mehr vom Arzt verschrieben und sie sind teilweise schwer am Gebrauchtmarkt zu finden. Die CGMs sind außerdem Verbrauchsmaterial, die regelmäßig getauscht werden müssen.
Wenn die Krankenkassen die Kosten für die kommerziellen, teuren Hybrid-Closed-Systeme nicht übernehmen, müssen Patienten diese selbst kaufen, für mehrere tausend Euro. Sind in der OpenAPS-Community viele User, die sich durch selbstgebaute Systeme hohe Kosten ersparen wollen?
Die meisten Personen, die sich OpenAPS-Systeme bauen, sind nicht primär an der Senkung von Kosten interessiert, sondern an der Steigerung ihrer Lebensqualität und dem Erzielen besserer Ergebnisse. In den USA ist es auch ein harter Kampf mit den Versicherungen, um Sensoren und Material für die Pumpen erstattet zu bekommen, aber den meisten Personen gelingt es.
Es gibt aber Gruppen in der OpenAPS-Community, speziell in vielen Teilen Europas, die die für Closed-Loop-Systeme nötigen CGMs nur privat kaufen können. Diese haben sich innovative Lösungen überlegt, um Kosten zu sparen. Dazu gehört etwa das Aufbohren von Sendern für Dexcom-CGMs, um die Batterie zu ersetzen und der Bau von eigenen Empfängern. So wird das künstliche Ablaufdatum dieser CGMs umgangen. Ein paar haben auch ein automatisches Auslese- und Sendersystem für das Abbott FreeStyle Libre gebastelt. Dieser im Vergleich zu anderen CGMs eher günstige Sensor wird so für Closed-Loop-Systeme geeignet gemacht.
Welches OpenAPS-Setup verwendest du derzeit?
Ich nutze Dexcom-CGMs, eine alte Medtronic-Pumpe und ein Edison/Explorer Mini-Computer Board mit OpenAPS. Ich trage das Board in einer bunten Hülle mit Clip, damit ich es einfach in meine Tasche stecken kann. Ich trage es nahe an meiner Pumpe.
Wie häufig wechselst du die Komponenten deines Closed-Loop-Systems aus oder modifiziert die Software?
Wir entwickeln den Algorithmus ständig weiter, also machen wir alle paar Tage Änderungen an der Software. Die physischen Komponenten ändern sich nicht so oft. Selbst mit der neuesten Hardware, wird ein System typischerweise sechs Monate genutzt, bevor man Hardware-Änderungen vornimmt.
Gibt es kommerzielle Hersteller, die die OpenAPS-Community unterstützen?
Die meisten sind generell unterstützend, dürfen uns aber aus rechtlichen Gründen nicht offiziell unterstützen. Den größten Support haben wir bisher von SOOIL erhalten, der die Dana-Insulinpumpen herstellt. Diese können mit AndroidAPS verwendet werden. Sie führen einen aktiven Diskurs mit den AndroidAPS-Entwicklern und machen kleine Verbesserungen an ihren Pumpen, um die Nutzung mit AndroidAPS zu vereinfachen.
Wurdest du jemals von Investoren darauf angesprochen, OpenAPS zu kommerzialisieren?
Viele Leute denken, dass das eine exzellente Idee ist. Die Herausforderung ist aber, ein gutes Geschäftsmodell in einem Bereich zu finden, der so stark von der Behörde FDA reguliert ist. Wir haben uns verschrieben, OpenAPS weiterhin als Open-Source-Lösung anzubieten, um den Zugang und die Verfügbarkeit der Closed-Loop-Technologie zu erhöhen.
futurezone Magazin
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Dieser Artikel erschien zuerst auf futurezone.at.