Der digitale Blick auf die Netzhaut des Auges in Verbindung mit der Analyse von Big Data könnte die medizinische Diagnostik revolutionieren. Angewendet wird diese Technologie ab Januar an der MedUni Wien bzw. dem AKH – allerdings nicht an der Augenklinik, sondern in der Diabetes-Ambulanz, die pro Jahr von rund 10.000 Patienten frequentiert wird.
Die Netzhaut stellt sozusagen das Fenster in den Gefäß- und Gehirnzustand eines Menschen dar. Ein digitaler Blick liefert unter anderem Aufschluss über das Alter eines Menschen, Geschlecht, Blutdruck, ob jemand raucht, an Diabetes erkrankt ist oder zumindest ein erhöhtes Risiko dafür hat, darüber hinaus, wann welche Folgeschäden zu erwarten sind.
Optische Kohärenztomografie
Die entsprechende Technologie ist die optische Kohärenztomografie (OCT), auf deren Basis binnen 1,2 Sekunden 40.000 Scans mit 65 Millionen Voxel entstehen. Dabei handelt es sich um Punkte in einem dreidimensionalen Gitter. „Kein anderes diagnostisches Verfahren hat so viele Voxels – nicht einmal eine Computertomografie des Gehirns“, erklärte Ursula Schmidt-Erfurth, die Leiterin der Uniklinik für Augenheilkunde und Optometrie. Die Daten der OCT werden mit Hilfe automatischer Algorithmen ausgewertet.
Das Gerät und diese Methode der Artificial Intelligence (AI) sind Entwicklungen der MedUni. Federführend beteiligt waren das Zentrum für Medizinische Physik und das von Schmidt-Erfurth geleitete Christian Doppler-Labor Optima. „Artificial Intelligence kann voraussagen, wann und wie oft behandelt werden muss, um das beste Ergebnis zu erzielen“, erklärte die Klinik-Chefin. Sie ist für die Etablierung der AI in der Augendiagnostik soeben mit der Donald Gass Medal der prominenten US-Fachgesellschaft Macula Society ausgezeichnet worden.
Künstliche Intelligenz in der Diabetes-Ambulanz
Ab Januar wird eines von bisher nur drei derartigen Geräten weltweit in der Diabetes-Ambulanz des AKH verwendet, kündigte der Diabetologe Florian Kiefer von der Uniklinik für Innere Medizin III an. Es soll eine genauere Diagnostik ermöglichen und damit exakt auf den betreffenden Patienten zugeschnittene Therapien. Eine der am meisten gefürchteten Spätfolgen der „Zuckerkrankheit“ ist Erblindung – durch eine fortschreitende Schädigung der Blutgefäße in der Netzhaut, die im Anfangsstadium nicht bemerkt wird. Dieses Risiko soll sich durch die effizientere Diagnose besser erkennen lassen.
Weist die Diagnose auf andere Probleme hin, wird der Patient zu einem Facharzt geschickt oder in die Augenklinik. Künftig können auch Erkrankungen innerer Organe – etwa der Nieren – oder neurologische Erkrankungen von der Netzhaut abgelesen werden. Das ab Jänner in der Diabetes-Ambulanz verwendete Gerät sehe ein bisschen aus wie eine Kaffeemaschine, meinte Schmidt-Erfurth, „nur dass man keine Tasse draufstellt“, sondern wie gewohnt beim Augenarzt das Kinn dort positioniert. Die Diagnose wird innerhalb weniger Minuten „ausgespuckt“.
Kein Ärzte-Ersatz
Überflüssig werden Ärzte durch die AI in der medizinischen Diagnostik nicht. Denn so präzise und effizient die Diagnosen sind: „Der Algorithmus sieht nicht die ganze Person. Die Therapie-Entscheidung muss der Arzt treffen, der mit dem Patienten reden kann“, erklärte Kiefer. „Die Ärzte werden von dem System nicht abgelöst werden, sondern mit ihm zusammenarbeiten.“ Schmidt-Erfurth meint, dass AI das Berufsbild des Augenarztes verändern wird. Und Fachbücher könnten überflüssig werden. Denn der Algorithmus ist immer auf dem letzten Stand der Wissenschaft.