Viel mag im Jahr 2017 in der Wissenschaft erreicht worden sein: Drei US-Forscher etwa wurden mit dem Nobelpreis in Physik ausgezeichnet, weil sie die von Albert Einstein vorhergesagten Gravitationswellen nachweisen konnten. Dann wurde ein 13 Milliarden Jahre altes schwarzes Loch entdeckt. Und erst kürzlich haben Ingenieure der University of Alberta es geschafft, kleinste Bewegungen in elektrischen Strom zu verwandeln. Viele Rätsel bleiben aber weiterhin ungelöst. So auch die Frage danach, was Zeit ist. Ein außergewöhnliches Experiment könnte helfen, diese Frage besser zu verstehen.
Zeitpfeile: Es ist paradox
Zunächst aber ein kleiner Exkurs in die Zeitforschung: Zeit lässt sich mithilfe der Physik auf zwei verschiedenen Ebenen betrachten: Auf mikroskopischer Ebene sind die Gesetze der Physik symmetrisch. Sie laufen also gleichförmig, egal, ob die Zeit nun vorwärts oder rückwärts läuft. Auf makroskopischer, also mit dem bloßen Auge sichtbarer Ebene allerdings, haben Prozesse in ihrem Verlauf ihre eigene Präferenz. Ein Paradoxon. Der britische Physiker Arthur Eddington prägte hierfür bereits 1927 den Begriff des Zeitpfeils.
Der psychologische Zeitpfeil: Was ist Vergangenheit, was Zukunft?
Inzwischen haben sich diverse dieser Zeitpfeile herausgebildet. Der für uns Menschen wohl relevanteste ist der psychologische. Er beschreibt unsere Wahrnehmung von einer Gerichtetheit der Zeit. Demnach zeigt die Zeit für uns eine Richtung von der Vergangenheit zu dem, was wir Zukunft nennen. Die Vorstellung, dass es ein Vorher und ein Nachher gibt, hilft uns, unsere Zeit und damit unser Leben einteilen zu können.
Das entspricht Einsteins Vorstellung von Raum und Zeit, die er in seiner Relativitätstheorie beschrieben hat. Er sagte einmal dazu: „Es ist schon seltsam, dass wir uns bei den herkömmlichen drei Raumdimensionen in jede beliebige Richtung bewegen können. In der Zeitdimension lediglich jedoch in einer.“ Dass die Naturgesetze, im Vergleich zum Verstand des Menschen, keinen Unterschied zwischen Vergangenheit und Zukunft machen, ist das Rätsel, das Wissenschaftler seit jeher versuchen zu lösen.
Der thermodynamische Zeitpfeil: Ein Maß für Unordnung
Für unser Bewusstsein lassen sich nur eindeutig gerichtete Prozesse beobachten, zum Beispiel ein Glas, das zu Boden fällt uns zerspringt. Es sind Prozesse, die sich für uns nicht umkehren lassen und damit irreversibel sind. Das Glas wird demnach nie mehr wieder einfach so wieder zusammengefügt werden können. Es erscheint also wahrscheinlicher, dass etwas in Schutt und Asche zerfällt, als dass etwas entsteht und sich weiterentwickelt – wie gesagt, für unseren psychologischen Zeitpfeil. Unordnung ist wahrscheinlich als Ordnung. In der Physik wird dies mit dem Kunstwort Entropie bezeichnet, dem Maß für die Unordnung eines Systems. Mit der „Zeit“ hat sich es sich kontinuierlich vergrößert. Das ist der thermodynamische Zeitpfeil.
Die Zeit läuft rückwärts: von kalt zu warm
Hier kommt eine neue interessante Frage ins Spiel: Ist es nicht möglich, Systeme zu kreieren, die die Erde wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückversetzen – und damit den Zeitpfeil zu zwingen, rückwärts zu laufen? Könnte sich so das zersprungene Glas nicht wieder zusammensetzen lassen? Dem Forscherteam von Kaonan Micadei von der Federal University of ABC in Brasilien ist es zum ersten Mal gelungen, ein solches System zu erschaffen, wie Technology Review berichtet.
Es besteht aus einer Mischung aus in Nagellackentferner gelöstem Chloroform, auch Aceton. Chloroform, auch CHCl3, besteht aus einem Kohlenstoff-, einem Wasserstoff und drei Chlor-Atomen. Mit einer Technik genannt Nuklearmagnetischer Resonanz können Physiker Atomkerne voneinander trennen, also eine Kernspaltung durchgeführt. Unter Einsatz von Radiowellen schaffen sie es, dass die Kernspins selbst Signale aussenden und sich miteinander verschränken. Die Physik nennt diesen Prozess Quantenverschränkung: Zwei Quantenpartikel teilen dabei dieselbe Existenz. Gleichzeitig können Forscher damit die Temperaturen der Kernspins kontrollieren und manipulieren. Das ging bisher nur in eine Richtung: Ein wärmerer Atomkern heizt den kälteren auf.
Micadei und sein Team haben das Gegenteil erreicht: Sie konnten beobachten, wie ein kaltes Versuchsobjekt ein wärmeres aufgeheizt hat – für unser Verständnis eigentlich physikalisch unmöglich. Dafür muss die Quantenverschränkung der Atomkerne im Voraus geschehen. Dadurch kann sich das Verhalten der Kerne flexibler entwickeln, es entsteht eine Art Motor, der Hitze in die andere Richtung schicken kann – von kalt zu warm eben. „Unsere Ergebnisse zum thermodynamischen Zeitpfeil könnten bedeutende Konsequenzen für den kosmologischen Zeitpfeil haben“, so Micadei.
Und wofür?
Technology Review zufolge ist das Phänomen nicht auf mikroskopische Systeme beschränkt. Deshalb könnten die Ergebnisse der Physiker auch einer neuen Generation von smarten Geräten erlauben, Hitze von kalten „Regionen“ in heiße zu lenken. Für das Verständnis von Zeit ist das Experiment ein großer Fortschritt. Bis zum vollständigen Verständnis wird es wohl aber noch eine ganze Weile dauern – wenn es denn überhaupt eintritt. Auf der Website der Cornell University Library ist die Arbeit der brasilianischen Forscher öffentlich zugänglich.