Entscheidungen. Das sind die Dinge, die viele Menschen am wenigstens leiden können. Es ist zwar schön, sich für eine, zwei oder drei Eissorten zu entscheiden, weniger schön jedoch für eine notwendige Operation oder gegen einen Partner.
Das lässt sich auch auf unser digitales Leben übertragen: Soll ich mir das neue Samsung Galaxy S9 kaufen? Soll ich meine Kontodaten tatsächlich über WhatsApp schicken? Oder: Will ich wirklich personalisierte Werbung von Google in meiner Spiele-App? Vor allem Datenschutz ist dabei ein Thema. Laut einer Bitkom-Umfrage verstehen auch nach der Einführung der neuen EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) ganze 71 Prozent der Deutschen noch nicht, was diese für sie persönlich bedeutet. Das Unverständnis beziehungsweise die Unsicherheit erschwert eine Entscheidung.
Cassie Kozyrkov: Botschafterin für die Buzzwords der Digitalisierung
Die Unwissenheit über das, was Computer, Algorithmen, Clouds und andere digitale Dienste heute für uns leisten – oder auch nicht – bereitet auch Cassie Kozyrkov Sorge. Sie trägt den Titel Chief Decision Scientist bei Google Cloud. Die Lösungen des US-Konzerns werden hierzulande beispielsweise von Conrad Electroniccs und dem Großhändler Metro AG genutzt. Denn die Cloud ist ein immer beliebterer Weg, große Datenmengen zu speichern und auszuwerten – mit künstlicher Intelligenz (KI) und maschinellem Lernen. Zwei Buzzwords der Digitalisierung, die nicht häufig in einem Atemzug genannt werden, sich aber in ihrer Bedeutung unterscheiden.
Das macht Kozyrkov allerdings nichts. „Als Wissenschaftlerin müsste ich eigentlich missmutig sein, wenn die zwei Begriffe falsch gebraucht werden“, berichtet sie am Rande der Tech Open Air in Berlin. „Aber ab einem bestimmten Punkt muss man akzeptieren, dass sich Sprache, so wie wir sie nutzen, zwangsläufig verändert. Und diese beiden Begriffe werden eben, vor allem in der Industrie und Forschung häufig synonym verwendet.“
Trockenes Thema – das „Tollste der Welt“
Die Begeisterung für ein auf den ersten Blick so trockenes Thema merkt man ihr an. Deshalb ist es kein Wunder zu hören, was sie zu verkünden hat: Kozyrkov wird Googles neue Botschafterin für künstliche Intelligenz. Eine Art diplomatische Tätigkeit, mit der sie es weiterhin meistern will, andere für die feinen Unterschiede zwischen KI und maschinellem Lernen zu sensibilisieren. Dass sie das kann, hat sie bereits unter Beweis gestellt: in Gastbeiträgen für Seiten wie Hacker Noon, Erklärvideos auf YouTube und in Gesprächen wie dem unserem.
Mit einem großen Lächeln, wachen Augen und ausladender Gestik berichtet Kozyrkov von ihren Leidenschaften und Professionen, den Neurowissenschaften, der Mathematik und Computing, als wäre es das Tollste der Welt. „Ich möchte Menschen für das begeistern, mit dem ich mich beschäftige. Weil es uns alle angeht“, sagt sie und führt die Hände zusammen, als würde sie beten. Mit ihr zu reden ist wie mit einem Informatiklehrer, einem Yogaguru und einem Start-up-Gründer aus dem Silicon Valley zusammen.
Maschinelles Lernen ist Rezepte-Schreiben
Bei Google war sie zunächst Statistikerin für den Dienst Maps. Da habe sie zum ersten Mal Kontakt mit maschinellem Lernen gehabt. Daten, die die Grundlage dafür bieten, bezeichnet sie als etwas „Wunderschönes“. Doch hatte sie auf ihrem Weg auch ihre Probleme damit. „Ich habe während meiner Karriere nach kleinen Wissensbrocken zum Thema Entscheidungsfindung in vielen Disziplinen gesucht“, sagt Kozyrkov und formt mit Zeigefinger und Daumen eine kleine Lücke. „Wenn die Leute nur Experten auf ihrem eigenen Gebiet sind, ist es allerdings schwierig diese Brocken zu finden. Daraus kann kaum etwas Innovatives entstehen.“ Auch deshalb ihr neuer Job als Google-Botschafterin.
Mehr und mehr Menschen sollen verstehen, was Algorithmen heute können und wie sie uns nützen. Wenn Kozyrkov solche Fragen gestellt bekommt, braucht sie jedenfalls nicht lange überlegen, die Antworten hat sie, so scheint es, stets parat. „Von einem Computer wollen wir einen Input und einen Output, das war schon immer so“, erklärt sie. Das „Rezept zu schreiben, das beides zusammenpackt“, habe sich allerdings im Vergleich zu früher durch maschinelles Lernen verändert.
Ein Beispiel bringt sie selbst: „Ich soll deinen Freund vom Flughafen abholen. Überleg dir, wie du mir beschreiben würdest, was ich wissen muss, um ihn zu erkennen. Du würdest mir sicher nicht die Entfernung zwischen seinen Augenbrauen beschreiben. Stattdessen würdest du dein Smartphone herausholen und mir ein Foto deines Freundes zeigen. Das entspricht der Programmierung von maschinellem Lernen. Du kommunizierst, du lehrst, aber nicht mit Instruktionen, sondern mit Beispielen. Du sagst: Nimm diese Beispiele und nutz deinen Algorithmus, um es selbst herauszufinden.“
Unabhängigkeit statt Befehl und Gehorsam
Das klingt nach mehr Freiheit für die Programmierer und mehr Unabhängigkeit für die Computer. Laut Kozyrkov stimmt beides: „Programmieren vor maschinellem Lernen entsprach dem Prinzip Befehl und Gehorsam, es waren also reine Instruktionen. Maschinelles Lernen ist anders. Es sagt Computern, was wir von ihnen wollen und zwar anhand von Beispielen. Der Algorithmus dahinter nimmt diese Beispiele und die Daten und erarbeitet das verbindende Rezept. Und wenn wir davon sprechen, dass sich AI und ML ständig selbst updaten, ist das nichts anderes als das, was der Programmierer vorher getan hat: den Code ständig überwachen und anpassen.“
Deshalb sind KI und maschinelles Lernen für Kozyrkov auch so schwer voneinander zu trennen. KI könne man höchstens noch als spezifischen Typ des maschinellen Lernens bezeichnen, sagt sie. Bei beiden geht es darum, das Unbeschreibliche zu automatisieren, mit Beispielen, Rezepten und selbstlernenden Algorithmen. „Und das hat nichts mit Robotern zu tun. Es geht ganz pragmatisch um Entscheidungen – das ist spannender als Sci-Fi“.
Entscheidung ist Bewegung – und Inspiration
Cassie Kozyrkov selbst hat eine breit gefächerte Meinung zum Thema Entscheidungen. Schließlich gebe es auch rein wirtschaftliche Entscheidungen: Wie viel wollen wir investieren? Welche Öffnungszeiten legen wir für unseren Shop fest? Allem zugrunde liege aber vor allem eines: dass sich etwas tut, eine Handlung also. „Vielleicht kann man sagen, dass ich mit einer neurowissenschaftlichen Sicht darauf blicke, das bedeutet: Entscheidung ist Bewegung“, sagt sie und macht mit ihren Armen eine Laufbewegung nach.
Und damit sich etwas tut, braucht es Inspiration. „Ich schaue beispielsweise auf eine Werbeanzeige und werde dadurch dazu inspiriert, die darauf abgebildete Feuchtigkeitscreme zu kaufen. Die Werbeanzeige ist das Datenmaterial. Diese Daten inspirieren die Entscheidung, die Feuchtigkeitscreme zu kaufen“, so Kozyrkov.
Die „wunderschönen Daten“
Pragmatischer kann man es wohl schwerlich formulieren. Kozyrkov ist in der Lage, die großen Zusammenhänge hinter den Daten, die uns häufig so viel Angst machen (wir erinnern uns an den Facebook-Datenskandal), furchtlos und sachlich zu veranschaulichen. Also merke: Mit KI und maschinellem Lernen denken Computer immer mehr wie wir. Sie lernen Beispiele, nicht Befehle. Wohin das in Zukunft noch führen wird, wird sich zeigen.
„Ja, Daten sind wunderschön“, wiederholt Kozyrkov ihr Mantra. „Die Frage ist nur, ob diese einfach nur gesammelt werden oder ob eine Absicht dahintersteckt. Denn wozu sollten wir Daten sammeln, wenn sie nicht die Grundlage für Entscheidungen darstellen? Das ist der Punkt, an dem es interessant wird.“
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