Für viele ist der Satz des Pythagoras die einzige bekannte Verbindung zu dem antiken Mathematiker und Philosophen. Jedoch hat Pythagoras während seines Lebens weit mehr erreicht als die berühmte mathematische Formel, die die meisten von uns vermutlich bereits in der Grundschule kennengelernt haben. Pythagoras von Samos formulierte zahlreiche Theorien, die die Wissenschaft bis heute beeinflussen. Eine seiner Theorien, die sich mit universellen musikalischen Harmonien beschäftigt, wurde nun von Forschenden widerlegt.
Das war Pythagoras‘ Theorie
Stell dir vor, du hast zwei Saiten. Wenn du eine Saite straff spannst und zupfst, erzeugt sie einen Ton. Wenn du eine zweite Saite daneben spannst und sie so abstimmst, dass ihre Länge ein einfaches Zahlenverhältnis zur ersten Saite hat – zum Beispiel genau die Hälfte, zwei Drittel oder drei Viertel der Länge der ersten Saite – und du zupfst beide Saiten, klingen sie zusammen besonders angenehm. Dieses angenehme Zusammenspiel der Töne nennt man „Konsonanz„. Pythagoras vermutete, dass die Töne, die zusammen „gut“ klingen, durch einfache Zahlenverhältnisse miteinander verbunden sind, wie 2:1, 3:2 oder 4:3.
In der modernen Musiktheorie wird diese Idee noch immer verwendet, um zu erklären, warum bestimmte Akkorde oder Notenkombinationen für unser Ohr angenehm klingen. Diese speziellen Beziehungen zwischen den Zahlen – oder genauer, die Frequenzverhältnisse der Töne – sorgen dafür, dass die Schwingungen der Töne im Einklang miteinander stehen, was zu einem harmonischen Klang führt.
Auf der anderen Seite, wenn die Längen der Saiten oder die Frequenzen der Töne nicht in einem einfachen Zahlenverhältnis stehen, klingen die zusammen erzeugten Töne weniger harmonisch oder sogar unangenehm. Das nennt man „Dissonanz„. Dissonante Klänge fühlen sich oft gespannt oder instabil an und lösen bei uns den Wunsch aus, zu einem konsonanten, also harmonischeren Klang zurückzukehren.
In jüngerer Zeit haben Forschende versucht, psychologische Erklärungen für unsere Vorliebe für Konsonanz gegenüber Dissonanz zu finden. Obwohl also die Beziehung zwischen einfachen Zahlenverhältnissen und musikalischer Harmonie weiterhin anerkannt wird, erforschten sie, wie unsere Wahrnehmung und unser Gehirn auf diese Klänge reagieren.
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„Völlig neue Muster von Konsonanzen und Dissonanzen“
Eine erst jüngst im Fachjournal Nature Communications veröffentlichte Studie zeigt: Pythagoras lag tatsächlich falsch – und mit ihm auch die moderne Musiktheorie. „Wir bevorzugen geringfügige Abweichungen“, erklärt Mitautor Dr. Peter Harrison. „Wir mögen ein wenig Unvollkommenheit, weil sie den Klängen Leben einhaucht, und das ist für uns attraktiv.“ Dr. Harrison arbeitet an der Musikfakultät der University of Cambridge und ist Direktor des dortigen Zentrums für Musik und Wissenschaft.
„Wenn wir Instrumente wie den Bonang verwenden, werden die speziellen Zahlen des Pythagoras außer Kraft gesetzt und wir treffen auf völlig neue Muster von Konsonanzen und Dissonanzen. Die Form mancher Schlaginstrumente führt dazu, dass ihre Frequenzkomponenten nicht den traditionellen mathematischen Beziehungen entsprechen, wenn man sie anschlägt und sie in Resonanz geraten. Und genau dann passieren interessante Dinge.“
Dr. Peter Harrison
Neue harmonische Sprache
Das Problem bestehe mitunter darin, dass sich die westliche Forschung zu sehr auf die ihr bekannten Orchesterinstrumente konzentriert habe. Gemeinsam mit seinem Team richtete Dr. Harrison ein Online-Labor ein. An ihrer Studie, in Form von 23 Verhaltensexperimenten, nahmen 4.000 Menschen aus den USA und Südkorea teil. Dort spielten die Forschenden den Teilnehmenden Akkorde vorgespielt, denen diese jeweils eine numerische Bewertung geben sollten. Auch hatten die Proband*innen die Möglichkeit, einen Schieberegler zu verwenden, um bestimmte Noten innerhalb eines Akkords anzupassen.
Es offenbarte sich den Forschenden eine überraschende Vorliebe für Inharmonizität. Dadurch stelle die Studie traditionelle Vorstellungen in Frage, dass es nur eine Art von Harmonie geben könne. Denn sie zeigt, dass Akkorde die einst festgelegten mathematischen Beziehungen nicht zwingend widerspiegeln müssen, um von Menschen als „gut“ wahrgenommen zu werden.
Die Ergebnisse würden darauf hinweisen, dass man durch den Einsatz verschiedener Instrumente eine ganz neue harmonische Sprache entwickeln könne. „Ein Großteil der experimentellen Musik der letzten 100 Jahre war für die Hörer ziemlich schwierig, weil sie hochgradig abstrakte Strukturen enthält, die schwer zu genießen sind“, so Harrison. „Im Gegensatz dazu können psychologische Erkenntnisse wie unsere dazu beitragen, neue Musik anzuregen, die die Hörer intuitiv genießen.“
Quellen: „Timbral effects on consonance disentangle psychoacoustic mechanisms and suggest perceptual origins for musical scales“ (Nature Communications, 2024); University of Cambridge
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