Migration ist ein zentrales Thema sowohl in der Politik als auch in der wissenschaftlichen Forschung, insbesondere bei der Untersuchung der Zeit der Völkerwanderung in Europa. Historisch gesehen haben Archäologie und Geschichtswissenschaft die Erforschung dieser Epoche dominiert. In den letzten Jahrzehnten hat jedoch die Genetik eine neue Perspektive eröffnet. DNA-Analysen ermöglichen es Forschenden, biologische Verwandtschaft über Generationen hinweg nachzuverfolgen und antike Migrationsrouten mit bisher ungekannter Genauigkeit zu kartieren.
Völkerwanderung neu beleuchtet
Das HistoGenes-Projekt des Europäischen Forschungsrats (erc) integriert Genetik, Archäologie und Geschichtswissenschaft, um Migration in Osteuropa zu untersuchen. Im Mittelpunkt steht die Migration der Awaren, ein nomadisches Reitervolk, das im 6. bis 9. Jahrhundert im Karpatenbecken (heutiges Ungarn) ein mächtiges Reich errichtete.
Ursprünglich aus Zentralasien stammend, kontrollierten sie Teile Osteuropas und des Balkans, führten erfolgreiche Raubzüge gegen das Byzantinische Reich und unterhielten ein starkes Reiterheer. Ihr Reich zerbrach im 8. Jahrhundert nach mehreren Feldzügen von Karl dem Großen, und die Awaren verschwanden nach ihrer Niederlage durch die Franken, wurden assimiliert oder gingen in den umliegenden Völkern auf.
Durch die Analyse von DNA aus awarischen Gräbern aus der Zeit der Völkerwanderung im heutigen Österreich haben Forschende Belege für eine biologische Durchmischung entdeckt, die bestätigt, dass diese Gruppen nicht ethnisch homogen waren. Das Projekt umfasst Dutzende Forschende und hat mit einem Budget von zehn Millionen Euro eine der größten Studien dieser Art ins Leben gerufen.
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Andere Blickwinkel
Trotz dieser Fortschritte kann die Genetik allein Migration nicht vollständig erklären. „Die Genetiker haben die Interpretation ihrer Funde häufig unter sich selbst ausgemacht, ohne Erkenntnisse anderer Disziplinen zu berücksichtigen“, zitierte Der Standard Walter Pohl. Der Experte für Völkerwanderung argumentierte, das Projekt bestreite mit seiner Methode „einen ganz neuen Weg“. An seinen Erkenntnissen komme man in der wissenschaftlichen Gemeinschaft nicht vorbei.
Interdisziplinäre Forschung zeigt, dass historische Bezeichnungen wie „Awaren“ oder „Franken“ oft eine fluidere und vielfältigere Realität verschleiern. Genetische Analysen zeigen, dass sich kulturelle Identitäten nicht immer mit biologischer Abstammung decken. Archäologische Funde, wie bestimmte Grabbeigaben, weisen zudem darauf hin, dass kulturelle Integration manchmal ohne genetische Vermischung stattfand.
Die Zusammenarbeit von Historiker*innen, Archäolog*innen und Genetiker*innen bringt Herausforderungen mit sich. Historische Forschende konzentrieren sich auf Kultur und Identität, während Genetikerinnen und Genetiker nach biologischen Beweisen für Migration suchen. „Während Corona haben wir uns wöchentliche Videokonferenzen angewöhnt, in denen wir sehr intensiv über zentrale Konzepte und Begriffe diskutiert haben“, ergänzte die Projektpartnerin Margit Berner vom Naturhistorischen Museum Wien. „Das hat die Zusammenarbeit definitiv vorangebracht.“
Quellen: HistoGenes; Der Standard
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