In den eisigen Gewässern der Arktis haben Wissenschaftler*innen ein beeindruckendes und zugleich erschreckendes Naturschauspiel dokumentiert. Mithilfe neuer Technologien konnten sie das bisher größte je beobachtete Raubtier-Beute-Ereignis im Ozean analysieren: In nur vier Stunden wurden vor der Küste Norwegens fast elf Millionen Lodden von einem riesigen Schwarm Kabeljaue gefressen. Dieses Ereignis wirft ein neues Licht auf die fragilen ökologischen Gleichgewichte in der Arktis.
Arktis: Massaker im Ozean
Jedes Jahr ziehen Milliarden von Lodden – kleine Schwarmfische, die auch als Kapelane bekannt sind – vom arktischen Eisschild Richtung Süden, um ihre Eier abzulegen. Diese Wanderung macht sie zu einer leichten Beute für den atlantischen Kabeljau, der entlang der norwegischen Küste lauert. In einer neuen Studie beobachteten Forscher*innen, wie 23 Millionen Lodden sich zu einem zehn Kilometer langen Schwarm formierten. Zur gleichen Zeit schlossen sich 2,5 Millionen Kabeljaue zu einem Jagdverband zusammen und verschlangen über die Hälfte der Lodden in nur wenigen Stunden. Damit ist es das erste dokumentierte Ereignis dieser Art.
Das Verhalten der Lodden, sich in großen Schwärmen zu sammeln, hilft ihnen normalerweise, Energie zu sparen und Feinde abzuschrecken. Doch in diesem Fall zog ihr Schwarm nur noch mehr Raubfische an. „Natürliche Raubtierereignisse können das lokale Gleichgewicht innerhalb von Stunden verändern“, warnte Nicholas Makris vom Massachusetts Institute of Technology (MIT), in einer Mitteilung seines Instituts. Solche massiven Eingriffe in das Ökosystem sind vor allem dann kritisch, wenn eine Art bereits unter Stress steht.
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Warnung vor ökologischem Kollaps
Die Lodden sind eine Schlüsselart in der Arktis und dienen vielen Meereslebewesen, darunter auch den Kabeljauen, als Hauptnahrungsquelle. Doch der Klimawandel zwingt die Fische, ihre Laichplätze immer weiter südlich zu suchen, da die arktische Eisdecke schmilzt. Dies setzt die Art zusätzlich unter Stress. Wissenschaftler*innen befürchten, dass das beobachtete Massaker in Zukunft häufiger vorkommen könnte, da die Lebensräume der Fische durch menschliche Einflüsse immer stärker belastet werden.
Ein solches Ereignis ist normalerweise „kein Problem für eine gesunde Population mit vielen räumlich verteilten Bevölkerungszentren oder ökologischen Hotspots. Aber da die Zahl dieser Hotspots aufgrund von Klima- und anthropogenen Belastungen abnimmt, könnte die Art von natürlichem ‚katastrophalen‘ Raubtierereignis, das wir bei einer Schlüsselart beobachtet haben, dramatische Folgen für diese Art sowie für die vielen Arten haben, die von ihr abhängig sind“, warnt Makris.
„Wenn die letzte große Gruppe einer bedrohten Population verschwindet, kommt es oft zum Kollaps“, erklärte Makris. Solche Einblicke in die Dynamik von Raubtier-Beute-Interaktionen könnten dabei helfen, gefährdete Arten besser zu schützen. Doch dafür müsse auch das Fischereimanagement nachhaltiger werden, um die Balance in diesen empfindlichen Ökosystemen zu wahren.
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Erkenntnis dank neuester Technologie
Ermöglicht wurde die Untersuchung in den Gewässern der Arktis durch eine bahnbrechende akustische Analysetechnik, die Fische anhand der Resonanz ihrer Schwimmblasen unterscheidet. „Fische haben Schwimmblasen, die wie Glocken klingen“, erklärt Makris.
„Kabeljau hat große Schwimmblasen mit einer tiefen Resonanz, wie die Glocke des Big Ben, während Lodden winzige Schwimmblasen haben, die wie die höchsten Töne auf einem Klavier klingen.“ Dank dieser Technik konnten die Wissenschaftler*innen die Bewegungen der Schwärme in der Arktis präzise verfolgen und erstmals die Dynamik eines solchen Raubtier-Ereignisses in großem Maßstab darstellen.
Quellen: „Rapid predator-prey balance shift follows critical-population-density transmission between cod (Gadus morhua) and capelin (Mallotus villosus)“ (Nature, 2024); Massachusetts Institute of Technology
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